top of page

Neurozentrierte Physiotherapie

Aktualisiert: 24. März

Was Bewegung und Wahrnehmung mit dem Gehirn zu tun hat


Neuroathletik Training, Neurozentrierte Physiotherapie

Was bedeutet neurozentriert?


Der Begriff 'neurozentriert' beschreibt einen Ansatz, bei dem das Nervensystem als zentrale Steuerinstanz des Körpers betrachtet wird.

Dabei geht es nicht nur um die Behandlung von Patienten mit neurologischen Erkrankungen, sondern um die allgemeine Verbesserung der Körperfunktionen über das Nervensystem. Jeder kann davon profitieren, denn das Gehirn steuert sämtliche Bewegungen, Wahrnehmungen und körperlichen Prozesse.


Neuroathletik-Training ist eine Form davon, die auf eine bessere Bewegungssteuerung und Leistungsfähigkeit abzielt.

Die Funktionelle Neurologie betrachtet den Körper und seine Funktionen ebenfalls aus Sicht des Nervensystems.

Alle diese Konzepte setzen am Nervensystem an, um Einschränkungen in Bezug auf Bewegung, Wahrnehmung und Leistungsfähigkeit zu optimieren – sei es für Sportler, nach Verletzungen oder Operationen oder Menschen mit Schmerzen.


Wie arbeitet das Gehirn?


Unser Gehirn verarbeitet ständig Sinneseindrücke, trifft Entscheidungen und steuert unsere Bewegungen. Damit es effizient arbeitet, braucht es zwei Dinge:


  1. Energie – Das Gehirn benötigt eine stabile Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen, um optimal zu funktionieren. Obwohl es nur etwa 2 % des Körpergewichts ausmacht, verbraucht es im Ruhezustand rund 20 % der gesamten Energie des Körpers. Diese hohe Energieanforderung unterstreicht, wie wichtig eine gute Durchblutung und Nährstoffversorgung für die kognitive Leistungsfähigkeit und die allgemeine Funktion des Nervensystems sind.


  2. Aktivierung – Durch Bewegung und gezielte Reize wird das Gehirn angeregt, sich weiterzuentwickeln. Dabei folgt es dem Prinzip 'Use it or lose it': Nervenverbindungen, die regelmäßig genutzt werden, werden gestärkt, während ungenutzte Verbindungen mit der Zeit abgeschwächt oder sogar verloren gehen. Dies bedeutet, dass eine bewusste und vielfältige Nutzung des Körpers und der Sinne entscheidend dafür ist, die Funktionen des Nervensystems langfristig zu erhalten und zu verbessern.



Warum ist Sicherheit für das Gehirn so wichtig?


Das Gehirn hat zwei Hauptaufgaben:

  • Überleben sichern – Es überprüft ständig die Umgebung und entscheidet, ob eine Situation sicher ist oder nicht.

  • Effizienz steigern – Es spart Energie, indem es bekannte Bewegungsabläufe automatisiert.


Damit das Gehirn optimal arbeitet, ist es auf klare und präzise sensorische Informationen angewiesen. Es nutzt Mustererkennung, um aus aktuellen Sinneseindrücken und gespeicherten Erfahrungen Vorhersagen zu treffen. Werden diese Vorhersagen aufgrund ungenauer oder fehlender sensorischer Reize fehlerhaft, kann dies zu ineffizienten Bewegungsabläufen, erhöhter muskulärer Spannung oder sogar chronischen Beschwerden führen. Einschränkungen entstehen vor allem durch Faktoren wie unzureichende sensorische Rückmeldungen, Schmerzen, Bewegungsmangel oder einseitige Belastungen. Diese führen dazu, dass das Gehirn Schutzmechanismen aktiviert, die sich in Form von Verspannungen, eingeschränkter Beweglichkeit oder Unsicherheiten in der Bewegung äußern. Eine gezielte Schulung der Wahrnehmung und Bewegungssteuerung kann helfen, diese Einschränkungen zu reduzieren und die Leistungsfähigkeit zu optimieren.


Die wichtigsten Sinne für die Bewegungssteuerung


Damit wir uns sicher und effizient bewegen können, benötigt das Gehirn präzise Informationen aus drei sensorischen Systemen:

  1. Visuelles System (Sehsinn) – Die Augen liefern Informationen über die Umgebung und Bewegung.

  2. Vestibuläres System (Gleichgewichtssinn) – Es nimmt Beschleunigungen wahr und hilft bei der Orientierung im Raum.

  3. Propriozeption (Tiefensensibilität) – Sie gibt Aufschluss über die Position und Spannung der Muskeln, Gelenke und Sehnen.


Verletzungen, Bewegungsmangel oder eine einseitige Nutzung dieser Sinne können zu Ungenauigkeiten in der Wahrnehmung führen. Wenn das Gehirn etwas nicht gut wahrnimmt, steuert es diese Bereiche schlechter. Aus Sicherheitsgründen erhöht es oft die Spannung, was zu Schmerzen und Bewegungseinschränkungen führen kann.


Warum wird im neurozentrierten Training so viel getestet?


Ein wichtiger Teil des neurozentrierten Trainings ist das kontinuierliche Testen. Da das Nervensystem sofort auf Reize reagiert, können gezielte Assessments helfen, herauszufinden, welche Übungen und Reize am effektivsten sind. So lassen sich individuelle Lösungen finden, die das Nervensystem gezielt unterstützen und eine bessere Bewegungsqualität ermöglichen.


Praktische Anwendungen der neurozentrierten Therapie


Hier sind einige Methoden, um die Sinnesverarbeitung und Bewegungssteuerung gezielt zu verbessern:

  • Visuelles Training: Die visuelle Wahrnehmung ist die wichtigste Informationsquelle für unser Gehirn, da sie die klarste Abbildung der Realität liefert – lieber sehen wir den Löwen, als ihn nur zu riechen oder zu tasten. Die Fähigkeit, beide Augen motorisch gut zusammenarbeiten zu lassen, periphere Informationen zu erfassen und visuelle Reize schnell zu verarbeiten, hat direkten Einfluss auf die räumliche Orientierung, Bewegungskontrolle und Reaktionsfähigkeit. Einschränkungen in diesen Bereichen können sich negativ auf die Körperhaltung, Koordination und allgemeine Leistungsfähigkeit auswirken. Durch gezieltes Training lassen sich diese Fähigkeiten verbessern und so das gesamte Bewegungssystem optimieren.


  • Vestibuläre Stimulation: Das Gleichgewichtssystem hat die Aufgabe, die Position des Körpers in Relation zur Schwerkraft wahrzunehmen. Es registriert Beschleunigungen und Bewegungen des Kopfes, verarbeitet diese Informationen und steuert reflexartig die aufrichtende Muskulatur, insbesondere entlang der Wirbelsäule. Dadurch ermöglicht es eine stabile Haltung und eine effiziente Bewegungskontrolle. Daher sollte Gleichgewichtstraining gezielte Beschleunigungsreize enthalten, um die vestibuläre Funktion zu verbessern und das Zusammenspiel zwischen Kopfposition, Körperhaltung und Bewegung zu optimieren. Im Gegensatz dazu geht es beim Balance-Training darum, den Körperschwerpunkt stabil über der Unterstützungsfläche zu halten und möglichst wenig Bewegung zuzulassen. Ein gezieltes Training des Gleichgewichtssystems ist besonders für Menschen mit Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule essenziell, da eine schlechte vestibuläre Kontrolle oft zu Verspannungen, Fehlhaltungen und eingeschränkter Beweglichkeit führen kann.


  • Propriozeptives Training:  Durch sensorische Reize für Muskeln und Gelenke wird die Körperwahrnehmung verbessert. Im sensomotorischen Kortex des Gehirns existieren sogenannte "Landkarten", die verschiedene Körperregionen und deren Bewegungsmuster repräsentieren. Diese Karten verändern sich je nach Nutzung und Präzision der sensorischen Rückmeldungen. Je klarer die Reize, desto besser wird die Bewegungssteuerung. Die meisten klassischen Übungen zur Kräftigung und Mobilisierung des Bewegungsapparats setzen genau hier an: Sie arbeiten mit Widerständen und Bewegungen, um Muskeln zu aktivieren und zu koordinieren. Dabei steht oft die Verbesserung von Kraft, Stabilität und Mobilität im Vordergrund. Allerdings reicht es nicht aus, nur die Muskeln zu trainieren – auch die Qualität der sensorischen Rückmeldungen an das Gehirn ist entscheidend für eine effiziente und sichere Bewegungsausführung.


  • Atemtraining: Durch bewusstes Atemtraining lässt sich das Nervensystem beruhigen, die Sauerstoffversorgung des Gehirns optimieren und die Ansteuerung des Körpers verbessern. Da das Gehirn eine enorme Menge an Energie benötigt, ist eine effiziente Sauerstoffversorgung essenziell für seine Funktion. Atemtechniken beeinflussen zudem direkt das autonome Nervensystem, wodurch Stress reduziert, die Durchblutung verbessert und eine bessere Körperwahrnehmung erreicht werden kann. Eine optimierte Atmung kann somit die kognitive Leistungsfähigkeit steigern und das gesamte Bewegungssystem positiv beeinflussen.



Klassische Physiotherapie neu gedacht!

Viele der Reize, die in der klassischen Physiotherapie eingesetzt werden – etwa durch Hands-on-Techniken wie Massage, Mobilisation oder manuelle Therapie – wirken in erster Linie auf sensorischer Ebene. Sie sprechen mechanosensitive Rezeptoren in Haut, Bindegewebe, Muskeln und Gelenkkapseln an. Dazu zählen unter anderem:

  • Meissner-Körperchen (Berührung)

  • Merkel-Zellen (Druck)

  • Ruffini-Körperchen (Dehnung)

  • Pacinische Körperchen (Vibration)

  • freie Nervenendigungen (Gefahr, Temperatur)

  • Golgi-Sehnenorgane und Muskelspindeln (Spannung & Längenveränderung)


Was dabei häufig vergessen wird: Diese Reize sind afferent, also rein sensorisch. Sie liefern dem Gehirn Informationen – aber sie lösen strukturell nichts im Gewebe. Die oft beobachtete Entspannung nach einer manuellen Technik beruht nicht auf einem „mechanischen Lösen“ von Faszien oder „Verlängern“ von Muskeln. Stattdessen handelt es sich um eine reflektorische Spannungsregulation, vermittelt über das zentrale Nervensystem.

Ein Beispiel: Wird durch sanften Druck ein Muskelbereich berührt, reagieren Golgi-Sehnenorgane und Muskelspindeln mit einer veränderten Rückmeldung an das Rückenmark und höhere Zentren. Das Gehirn interpretiert die neue Information möglicherweise als „ungefährlich“ – daraufhin wird die Tonusregulation angepasst. Der Muskel „entspannt“ sich, weil das Gehirn entschieden hat, dass keine Schutzspannung mehr nötig ist – nicht, weil etwas physisch „gelöst“ wurde.

Auch lokale Effekte wie Mehrdurchblutung, Stoffwechselsteigerung und kurzfristige Schmerzlinderung sind wertvoll, allerdings bleiben diese Wirkungen meist temporär, wenn sie nicht mit einer aktiven, gezielten Bewegung kombiniert werden. Ohne die bewusste Nutzung der neuen sensorischen Information – z. B. durch Bewegungsübungen, isometrische Haltearbeit oder visuelle Integration – speichert das Gehirn diese Veränderung nicht dauerhaft. Der Effekt verpufft oft nach kurzer Zeit.

Das bedeutet nicht, dass Hands-on-Techniken „schlecht“ sind – im Gegenteil: Sie können ein hervorragender Türöffner sein. Entscheidend ist jedoch, wie wir sie verstehen und was wir anschließend damit machen. Die neurozentrierte Perspektive erweitert den therapeutischen Handlungsspielraum: Indem wir nach dem sensorischen Reiz gezielt neuronale Aktivierung und Integration über Bewegung anstoßen, erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit für nachhaltige Anpassungen.


Fazit


Das Gehirn arbeitet am besten, wenn es sich sicher fühlt und klare Informationen erhält. Mit der neurozentrierten Therapie können wir diese Prinzipien gezielt nutzen, um Bewegung, Leistungsfähigkeit und Schmerzfreiheit zu fördern. Wer das Nervensystem in die Therapie einbezieht, behandelt nicht nur Symptome, sondern verbessert das gesamte System – für nachhaltige Erfolge in Rehabilitation, Training und Alltag.


Mach's nicht irgendwie. Mach's smart!


Daniel Sturm


Train smart. Reach goals.

Physiotherapeut / Heilpraktiker / Neuroathletik-Trainer

 
 
 

Comments


bottom of page